Die Erreichbarkeit

von Erwin Grosche

© Peter Thulke

Die Erreichbarkeit
 
Gibt es eine Erreichbarkeit über den Tod hinaus? Gott ist immer erreichbar. Wie modern er geworden ist. Ihm reichte es früher, daß man nichts von ihm weiß. Alle ahnten, daß da was ist, der Rest wurde offen gelassen. Ich war mal eine zeitlang gut erreichbar, aber niemand rief an. Gibt es etwas wichtigeres als da zu sein, wenn andere uns erreichen wollen? Ich werde immer von einem Klingelton magisch angezogen, selbst wenn er nicht von meinem Apparat ausgeht. Ist es nicht verzeihbar, auch bei einer Beerdigung, wo sie Trost spenden wollen, dem Klang eines Smartphones zu folgen? „Oh Entschuldigung, da muß ich jetzt rangeh`n, das ist mein Fitnesstrainer.“ Das spendet Trost, auch weil es zeigt, daß das Leben weitergeht. Die Annahme des Gesprächs ist ein Lebenszeichen, daß es uns noch gibt. Wir sind da und einsatzbereit. Ist es nicht auch bei einem Unfall verzeihbar, wo sie gerade eine Mund zu Mundbeatmung einleiten wollen, daß sie auf das „Lidl lid li lidl li“ des Handys reagieren und Interesse bekunden? „Oh Entschuldigung, da muß ich jetzt rangeh`n, das ist mein Versicherungsvertreter. Die wollen wissen wie viele Autos in den Unfall verwickelt sind.“ Auch ich reagiere in einer stürmischen Liebesnacht, wenn das Handy uns mit seinem „Lidl lid li lidl li“ in die Wirklichkeit ruft und sage: „Entschuldigung, da muß ich jetzt ran geh`n, das ist meine Frau.“ Natürlich nehme ich das Gespräch an, selbst beim Entschärfen einer Bombe, sogar wenn ich der einzige bin, der in den verbleibenden zehn Sekunden sagen kann, ob der gelbe oder der blaue Draht durchgetrennt werden muß und reagiere: „Oh Entschuldigung, da muß ich jetzt rangeh`n. Das ist mein Augenarzt, der mich behandelt wegen meiner Farbblindheit.“ Mir erzählte mal ein Mann, daß er bei seiner Hochzeit, kurz bevor er vor dem Altar das alles erlösende „Ja“-Wort geben sollte und der Priester ihn schon das vierte Mal gefragt hatte, ob er wirklich diese neben ihm stehende Frau heiraten wolle, an sein Handy ging, und sagte: „Ja“. Laut und deutlich „Ja“. Es war die Idee des Priesters gewesen ihn anzurufen, weil er ganz sicher war, daß er dadurch die volle Aufmerksamkeit des Bräutigams hatte. Weil er wußte, daß viele Menschen besser zuhören können, wenn sie angerufen werden. Mit der Situation können alle umgehen. Die wirft uns nicht aus dem Konzept. Die Erreichbarkeit läßt die Ferne schwinden. Man muß nicht mehr dort sein, wo der andere ist. Jeder ist überall und immerzu da. Jeder ist immerzu bereit wie Gott. Jeder ist Gott.
 
 © Erwin Grosche